Herr Ministerpräsident, Sie haben gemeinsam mit den Regierungschefs von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz einen Brief an die Bundeskanzlerin geschrieben. Darin verlangen Sie, dass Asylbewerber, die in Deutschland eine Ausbildung machen, mindestens für die Dauer der Ausbildung bleiben dürfen. Was versprechen Sie sich davon?

Das hilft allen Seiten. Den Arbeitgebern, weil sie Planungssicherheit haben, und uns allen, weil wir Mangelberufe wie Bäcker oder Metzger wieder besetzt bekommen. Aber natürlich hilft es auch den Asylbewerbern, die andernfalls dasitzen und nichts machen würden. Bleiben sie hier, haben wir qualifizierte Arbeitskräfte, gehen sie wieder zurück, haben sie eine qualifizierte Ausbildung. Zur Ehrlichkeit gehört allerdings auch, dass die Betriebe diejenigen, die sie ausgebildet haben, gerne hierbehalten möchten. Die Regelung soll also unabhängig vom Ausgang des Asylverfahrens gelten.

Die Anregung für den Brief soll auch aus der Wirtschaft gekommen sein.

Das ist richtig. Wir dürfen das Thema aber nicht nur im Lichte des Fachkräftemangels diskutieren. Der Satz von Max Frisch „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“ muss uns Mahnung sein.

Was halten Sie von der Forderung nach einem Einwanderungsgesetz?

Wer heute nach einem Einwanderungsgesetz ruft, wird für modern gehalten. Wer dann noch sagt, „Deutschland ist ein Einwanderungsland“, der gilt als besonders toll. Das ist aber zu kurz gesprungen. Überhaupt wird in der Debatte alles mit allem vermischt.

Klären Sie uns auf.

Wir müssen drei Bereiche strikt trennen. Erstens: das Asylrecht. Das ist ein individuelles Grundrecht für alle Menschen, die politisch verfolgt werden. Es entzieht sich deshalb jeder Steuerung und gilt unabhängig von der Bedarfslage auf dem Arbeitsmarkt. Es wäre auch ein Trugschluss zu glauben, dass durch gesteuerte Einwanderung der Druck auf das Asylrecht nachlässt. Da geht es in der Regel um einen ganz anderen Personenkreis.

Zweitens: Armutseinwanderung. Das sind Menschen, die zu uns kommen, weil sie in ihrer Heimat keine Perspektive mehr sehen. Dafür habe ich Verständnis, niemand verlässt seine Heimat einfach so. Anspruch auf Asyl erwächst daraus aber nicht.

Drittens: die klassische Einwanderung. Da müssen wir klären, wer nach welchen Regeln hierher kommen darf. Diese Debatte ist bisher nicht seriös geführt worden. Kollege Oppermann von der SPD hat sich gerade für das „kanadische Modell“ ausgesprochen. Ausgerechnet für das, von dem sich Kanada wegen schlechter Erfahrungen gerade verabschiedet.

Ihnen genügt das vorhandene Aufenthaltsgesetz?

Unterm Strich bin ich dafür, vorhandene Instrumente erst besser zu nutzen. Das Aufenthaltsgesetz, das früher stark als Abwehrrecht konzipiert war, ist mehrfach angepasst worden. Es bietet inzwischen eine Vielzahl von Möglichkeiten, Leute ins Land zu holen. Aber es ist nicht so gut, dass es nicht verbessert werden könnte.

Bei der Blue Card für Hochqualifizierte ist die Nachfrage sehr überschaubar.

Deutschland ist ein hochattraktives Land, aber für bestimmte Spezialisten sind englischsprachige Länder eben interessanter. Dabei geht es nicht um die Nobelpreisträger. Da bin ich sowieso dafür, dass man die mit dem roten Teppich schon am Flughafen abholt. Bei denen, die ich meine, müssen wir uns darum kümmern, dass die Sprachbarrieren fallen. Das kann schon in den Herkunftsländern geschehen, da sind die Auslandsvertretungen oder die Goetheinstitute gefragt.

Bundesinnenminister de Maizière hat an Ihrem Brief Kritik geäußert. Er befürchtet, dass nicht nur der eine Auszubildende im Land bleibt, sondern die gesamte Familie. Haben Sie dafür Verständnis?

Aber ja, als früherer Innenminister rede ich ja nicht wie der Blinde von der Farbe. Das Risiko ist unbestreitbar. Ich glaube aber, man kann es gesetzlich ausschließen. So neu, wie jetzt getan wird, ist unser Vorschlag übrigens gar nicht.

Inwiefern?

Ich habe schon vor mehr als zehn Jahren per Erlass geregelt, dass ein Asylbewerber, der in Hessen eine Ausbildung macht, nicht abgeschoben wird.

Das war so einfach möglich?

Manchmal muss man daran erinnern, dass die Bundesrepublik ein Zusammenschluss der Länder ist. Und im Grundgesetz steht, dass die Ausführung der Gesetze Ländersache ist. Die konkrete Aufenthaltsbeendigung obliegt den Ländern. Trotzdem müssen die gegenwärtigen Herausforderungen von allen Akteuren gemeinsam bewältigt werden.

Wie bewerten Sie die Zusammenarbeit in der EU?

Es kann nicht sein, dass manche Länder sagen, uns ist alles egal, Hauptsache, die Flüchtlinge verlassen uns zwei Tage später. Die Italiener müssten nach allen Gesetzen, die wir haben, Fingerabdrücke von Flüchtlingen nehmen, damit wir diese identifizieren können. Machen sie aber nicht. Und wenn ein Flüchtling nicht identifiziert ist, dann ist es ein Leichtes, uns zu erklären, er komme nicht aus Italien.

Als Zentrum des Menschenschmuggels in Richtung Westeuropa gilt die türkische Hafenstadt Mersin.

Das ist moderner Sklavenhandel. Dagegen könnte man vorgehen. Da müsste aber der Herr Erdogan mitspielen. Tut er aber nicht.

Rechnen Sie mit einer Rückkehr zum Dubliner Abkommen, das in Europa Asylverfahren regeln sollte, nun jedoch in Trümmern liegt?

Es ist notwendig und richtig. Ich fürchte aber, dass es bei der EU-Kommission mit Blick auf andere Themen – Ukraine, Griechenland – derzeit nicht die oberste Priorität hat.

Teilen Sie die Einschätzung, dass in Deutschland nicht konsequent genug abgeschoben wird?

Das Tor zu Deutschland ist keine Drehtür. Jeder hat das Recht, dass sein Anspruch vor Gericht geprüft wird. Und manchmal gibt es einfach Hindernisse, die eine Abschiebung erschweren, wie beispielsweise fehlende Identität. Als Rechtsstaat müssen wir aber auch deutlich machen, dass Menschen, die hier kein Aufenthaltsrecht haben, wieder zurück müssen. Sonst werden wir nicht mehr ernst genommen.

Manche Leute in Deutschland fühlen sich auch wegen der Einwanderung unbehaust und überfordert.

Zunächst ist Deutschland ein extrem offenes, den Flüchtlingen zugewandtes Land. Eine Marine Le Pen gibt es hier nicht. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass jede Gruppe nur ein gewisses Maß an Anderssein erträgt, dann beginnt die Gruppe, sich zu wehren, weil sie um ihre Identität fürchtet. Deshalb müssen wir mit diesem Thema sehr sensibel umgehen.

Wie nahe ist Ihr grüner Koalitionspartner bei dem, was Sie denken?

Es gibt bei den Grünen nach wie vor viele, vor allem im Bund, die darauf hoffen, dass die gegenwärtigen Konflikte bald vorbei sind. In Berlin wird das noch eine ganze Zeit dauern, bis sie regierungsfähig sind. Die Grünen hier im Land sind da weiter, haben einen ausgeprägten Sinn für Realität, weil sie regieren und die Probleme sehen.

Wo haben Sie den Eindruck, dass manche Grüne der Realität hinterherhinken?

Nehmen Sie die Debatte über die sicheren Herkunftsländer. Wir wollten ja ursprünglich fünf Staaten dazu nehmen. Der Kompromiss war drei, Bosnien, Mazedonien, Serbien. Albanien wurde ausgenommen. Das Ergebnis ist, dass derzeit besonders viele Menschen mit albanischen Pässen um Asyl nachsuchen. Viele davon sind in Serbien ausgestellt worden.

Spüren Sie selbst eine Art Vergrünung? Emotionen, von denen Sie vorher nichts geahnt hatten?

Was Emotionen betrifft, musste ich nichts neu in mir entdecken. Ich führe diese Debatten seit Jahrzehnten. Es ist einfach ein Unterschied, ob Empörungsdebatten geführt werden oder ob man Entscheidungen fällen und Verantwortung tragen muss. Schon als ich Innenminister war, musste ich deshalb manchen sagen: Keiner von euch hat jemals einen Menschen abgeschoben. Bei mir lagen die Briefe auf dem Schreibtisch: „Du bist schuld.“ Aber das gehört dazu. Wenn Sie mal eine Abschiebung miterlebt haben, dann wissen Sie, wie schwer das ist. Und die Polizisten sind dann wieder die Unmenschen, die Recht und Gesetz umsetzen. Meinen Sie, denen macht das Spaß?

Empfinden Sie das Kirchenasyl als Heuchelei?

Nein. Aber es muss eine extreme Ausnahme bleiben. Eine Lösung für die von uns besprochenen Probleme ist es nicht.

Das Interview führten Jasper von Altenbockum und Timo Frasch

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