Im Interview mit der WELT erklärt der stellvertretende Vorsitzende der CDU Deutschlands, Ministerpräsident Volker Bouffier, wohin der Verhandlungsmarathon in Berlin und Wiesbaden führt – und was die NSA-Abhöraffäre für die Politik und für seine persönliche Kommunikation bedeutet. Lesen Sie hier das Interview in voller Länge:

Die Welt: Wissen Sie, wie viele Sondierungs- und Verhandlungsrunden Sie seit dem 22. September absolviert haben?

Volker Bouffier: Sehr, sehr viele. Ich zähle die Gespräche nicht mehr. Das ist sicher die spannendste Zeit meines Politikerlebens. Das ständige Hin und Her zwischen Wiesbaden und Berlin ist eine logistische Herausforderung. Ich halte in einer Erinnerungskladde fest, was ich wo für wichtig erachte.

Die Welt: Im Bund läuft es auf eine große Koalition hinaus. In Hessen auch?

Volker Bouffier: Alle Parteien kommen von sehr unterschiedlichen Positionen her. In Hessen ist es noch viel schwieriger als im Bund, eine Schnittmenge zu finden. Die großen Fragen sind Schule und Flughafen.

Eines muss man sich dabei klarmachen: In Hessen ist es 63 Jahre her, dass CDU und SPD zusammengesessen haben, um eine Regierung zu bilden. Und mit den Grünen haben wir noch gar nicht zusammengearbeitet. Unser Ziel als Union ist es, dass wir Ende November sagen können, mit wem wir uns eine Koalition vorstellen können.

Die Welt: Sind Sie sicher, dass Sie Ministerpräsident bleiben?

Volker Bouffier: Ich bin lange genug auf der Welt, um nichts auszuschließen und Wahrscheinlichkeiten einschätzen zu können. Ich bin sehr zuversichtlich.

Die Welt: Sie gelten als letzter Konservativer der CDU. Kommt es in Hessen zu Schwarz-Grün, sind Sie plötzlich Avantgarde. Reizt Sie das – oder schreckt Sie das eher?

Volker Bouffier: Ämter prägen nun mal Bilder. Ich glaube ja, dass ich mich gar nicht verändert habe, aber die Wahrnehmung ist eine andere. Ein Bündnis der hessischen CDU mit den Grünen wäre sicher außergewöhnlich.

Wenn wir stabile Inhalte hinbekommen, ist Schwarz-Grün möglich. Und wenn nicht, nützt auch die faszinierende Perspektive nichts. Es reicht nicht, das Feuilleton zu begeistern. Es stehen auch noch letzte Sondierungsgespräche mit den Grünen und der SPD an.

Die Welt: In den Verhandlungen auf Bundesebene sind augenscheinlich Seehofer und Gabriel voneinander begeistert. Einigen sich die Vorsitzenden von Christsozialen und Sozialdemokraten auf Kosten der Kanzlerin?

Volker Bouffier: Das glaube ich nicht. Niemand zweifelt daran, dass Angela Merkel die Chefin ist und in den Verhandlungen die Dinge in der Hand hat.

Die Welt: Die SPD will einen politischen Mindestlohn durchsetzen, die CSU eine Pkw-Maut für Ausländer. Was ist eigentlich der CDU besonders wichtig?

Volker Bouffier: Erstens: keine Steuererhöhungen. Zweitens: die Mütterrente. Beides werden wir auch erreichen. Und wir werden nichts tun, was Arbeitsplätze kostet. Die Arbeitsgruppen haben eine Menge aufgeschrieben, aber es wird kein Sammelsurium aller Wünsche geben. Es geht nicht darum, das Publikum zu unterhalten. Ich plädiere für eine ruhige Politik. Gute Politik bedeutet nicht, dass man immer ganz viel ändern muss.

Die Welt: Widersprechen Sie der These, eine große Koalition müsse sich großen Aufgaben zuwenden?

Volker Bouffier: Es ist keine kleine Aufgabe, das größte Land Europas mit der stärksten Volkswirtschaft wettbewerbsfähig zu halten. Das ist eine Megaaufgabe.

Die Welt: Gehen denn die Herzenswünsche von SPD und CSU in Erfüllung?

Volker Bouffier: Die Forderung der CSU nach einer Pkw-Maut für Ausländer, ohne Mehrbelastung der deutschen Autofahrer, habe ich schon früher unterstützt. Am Ende wird man sehen müssen, ob das Modell mit europäischem Recht vereinbar ist.

Der flächendeckende, gesetzliche Mindestlohn hat für die SPD eine geradezu mystische Qualität. Trotzdem dürfen wir nichts beschließen, was Beschäftigung gefährdet. Ich setze mich dafür ein, dass die Tarifkommission ohne politische Vorgaben arbeitet. Von einer Einigung sind wir aber noch weit entfernt.

Die Welt: Wenn Sie die Bürger nicht stärker belasten wollen, darf es auch keine Finanztransaktionssteuer geben.

Volker Bouffier: Ich sehe nicht, dass wir eine Finanztransaktionssteuer einführen. Ein nationaler Alleingang hätte verheerende Folgen – gerade für das Finanzzentrum Rhein-Main. Und eine internationale Lösung ist gerade nicht sehr wahrscheinlich. Ich rate dazu, auf Symbolpolitik zu verzichten.

Die Welt: Was bleibt von den Entlastungsversprechen?

Volker Bouffier: Wir haben niemandem versprochen, dass wir die Steuern senken.

Die Welt: Sie wollten die kalte Progression abmildern. Schon vergessen?

Volker Bouffier: Wir haben es mehrfach versucht – und sind im Bundesrat an der SPD gescheitert. Das Ziel bleibt. Wenn wir es verwirklichen, können wir anderes aber nicht machen. So klar ist das. Eine Lösung könnte sein, Korrekturen bei der kalten Progression in Etappen anzugehen.

Die Welt: Einig sind sich die Verhandlungspartner, dass sie den gesetzlichen Mechanismus außer Kraft setzen wollen, zu viel gezahlte Rentenversicherungsbeiträge den Beitragszahlern zurückzugeben ...

Volker Bouffier: CDU, CSU und SPD diskutieren über mehrere rentenpolitische Vorhaben ...

Die Welt: ... zum Beispiel über eine Rentenaufstockung für Geringverdiener, eine Rentenangleichung zwischen Ost und West und eine abschlagsfreie Rente mit 63 nach 45 Beitragsjahren ...

Volker Bouffier: ... und ich sehe keinen Weg, wie wir alles zusammen hinbekommen sollen. Daher müssen wir Prioritäten setzen.

Die Welt: Welche haben Sie im Sinn?

Volker Bouffier: Wir werden einen Kompromiss finden. Weitere Ausnahmen von der Rente mit 67 halte ich jedenfalls nicht für finanzierbar.

Die Welt: Wie wollen Sie den Eindruck zerstreuen, Ihnen gehe es um ein Wiederbelebungsprogramm für die FDP?

Volker Bouffier: Wir machen keine Steuererhöhungen. Das ist eine der zentralen ökonomischen Weichenstellungen schlechthin.

Die Welt: Ihr Vorgänger Roland Koch hat seine erste Wahl mit einer Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft gewonnen. Muss sich Koch auf eine späte Niederlage einstellen?

Volker Bouffier: Wir müssen keine Niederlage einstecken. Mit der Union wird es den Doppelpass als Regelfall nicht geben. Die doppelte Staatsbürgerschaft würde zu erheblichen Schwierigkeiten im Alltagsleben führen, beispielsweise wenn es um Erbschaft, Scheidung, Unterhalt und Ähnliches geht.

Wir möchten, dass die Menschen eine Staatsbürgerschaft haben – und sich für den deutschen Pass entscheiden. Das Optionsmodell hat sich bewährt. Wir sind allerdings bereit, Anpassungen vorzunehmen ...

Die Welt: ... und zwar welche?

Volker Bouffier: Es gibt Länder, in denen man Grund und Boden nur als Staatsbürger erwerben oder erben kann. Oder die Berufsausübung ist an die Staatsbürgerschaft geknüpft. Daraus ergeben sich ungerechtfertigte Benachteiligungen. Hier sollten wir pragmatisch entscheiden, ohne gleich Grundsatzfragen aufzuwerfen.

Um Konflikte zu vermeiden, könnten wir in begründeten Ausnahmefällen doppelte Staatsbürgerschaften hinnehmen. Für sehr erwägenswert halte ich das Modell einer ruhenden und einer aktiven Staatsbürgerschaft. Es funktioniert bereits in vielen Staaten. Dort, wo man sich aufhält, ist man mit allen Rechten und Pflichten dabei. In den Koalitionsverhandlungen haben wir an dieser Stelle noch Beratungsbedarf.

Die Welt: Haben Sie sich mal beim türkischen Ministerpräsidenten erkundigt, ob er ein entsprechendes Abkommen unterzeichnen würde?

Volker Bouffier: Mit Verlaub: Es geht hier nicht um die Interessen von Herrn Erdogan. Es geht um die bestmögliche Integration. In vielen Ländern zeigt sich doch, dass die ruhende Staatsbürgerschaft ein praktikables Modell ist.

Die Welt: Muss in den Koalitionsverhandlungen das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit neu justiert werden?

Volker Bouffier: Die digitalisierte Welt hat eine Freiheit ermöglicht, die die Freiheit anderer in hohem Maße beschneidet. Mit etwas technischer Begabung ist man nicht nur in der Lage, rund um den Globus zu kommunizieren, sondern kann auch die Kommunikation anderer mitzulesen.

Wir müssen das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit neu bestimmen. Ich begrüße sehr, dass vor dem Hintergrund der jüngsten Abhöraffäre eine kritische Diskussion eingesetzt hat. Das Internet ist eine Revolution, für die der klassische Handwerkskasten der Politik nicht immer ausreicht.

Die Welt: Was bedeutet das für die Vorratsdatenspeicherung?

Volker Bouffier: Ich bleibe dabei: Wie will man bestimmte Kriminalität bis hin zum Terror bekämpfen, wenn man nicht versucht, die wichtigste Grundlage – die Kommunikationswege – aufzuklären? Wenn wir auf die Speicherung von Telefon- und Internetverbindungsdaten verzichten, sind wir nicht mehr in der Lage, präventiv zu arbeiten.

Der Staat verletzt seine Schutzverpflichtung – und nach dem nächsten Anschlag kommt zu Recht die Frage: Warum habt ihr das nicht verhindert? Ich kann mir allenfalls vorstellen, die Mindestspeicherdauer von sechs auf drei Monate zu verringern. Auf dieser Basis ist ein Kompromiss auf europäischer Ebene vorstellbar.

Die Welt: Stellen Sie sich vor, Sie treffen den früheren US-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden. Was fragen Sie ihn?

Volker Bouffier: Das würde ich von der Situation abhängig machen. Die meisten Amerikaner halten Snowden für einen Verräter, die meisten Deutschen für einen Helden. Ich habe kein eindeutiges Bild von diesem Mann.

Die Welt: Sie könnten ihn fragen, ob Sie selber abgehört werden.

Volker Bouffier: Ich gehe mal davon aus, nicht so bedeutend zu sein, dass sich alle Geheimdienste dieser Welt mit meiner Kommunikation befassen. Ich finde sie auch nicht so aufregend. Ich nehme jedenfalls an, dass Kommunikation in einem offenen Raum immer gefährdet ist. Wir leben in einer schönen neuen Digitalwelt.

Die Welt: Wie schützen Sie sich?

Volker Bouffier: Ich habe ein normales Handy. Aber ich achte schon darauf, wie ich kommuniziere.

Die Welt: Nämlich?

Volker Bouffier: Ich schreibe nicht alles per SMS. Und ich schreibe schon gar keine Mails.

Die Welt: Sie schreiben überhaupt keine E-Mails?

Volker Bouffier: Nein.

Die Welt: Es gibt keinen Bouffier-Account in der hessischen Staatskanzlei?

Volker Bouffier: Doch. Aber den bedienen meine Mitarbeiter in Abstimmung mit mir.

Die Welt: Und wenn Ihre Kinder mal im Ausland sind ...

Volker Bouffier: ... schreibe ich eine SMS. Oder ich rufe sie an. Ich lege schon Wert darauf, dass wir noch irgendeine Form des unmittelbaren Kontakts miteinander haben.

Die Welt: Unter welchen Umständen könnte Snowden in Deutschland aufgenommen werden?

Volker Bouffier: Asyl kommt nach unserem Recht überhaupt nicht in Betracht, und ich kann mir auch keine anderen Aufenthaltstitel vorstellen. Wir haben ein Auslieferungsabkommen mit den USA, und ein Rechtsstaat zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht von Fall zu Fall entscheidet, ob er sich an die Regeln hält. Der Vater von Herrn Snowden hat seinem Sohn empfohlen, auf keinen Fall nach Deutschland zu kommen. Ich glaube, der Vater hat recht. Eine Befragung kann allenfalls in Moskau stattfinden.

Die Welt: Gibt die Union ihren Widerstand gegen einen Untersuchungsausschuss auf?

Volker Bouffier: Ich kann mir schwer vorstellen, was ein solcher Untersuchungsausschuss bringen soll. Der amerikanische Geheimdienstchef wird nicht nach Berlin kommen, um auszusagen.

Die Welt: Braucht Deutschland einen Internetminister?

Volker Bouffier: Wir brauchen ein neues Internetkonzept. Wir müssen uns fragen, wie wir die Menschen davor schützen können, dass ihre Daten missbraucht werden. Es hat sich so viel verändert. Als ich mein Studium begonnen habe, gab es an der Uni nicht einmal Kopiergeräte. Einer meiner Söhne hat jetzt fast ein Jahr in England studiert – und er hatte die Möglichkeit, über das Internet in Bibliotheken zu gehen. Das ist faszinierend. Aber ich glaube nicht, dass wir für dieses Feld ein neues Ministerium brauchen.

Die Welt: Bleibt es bei 14 Fachressorts? Die SPD reklamiert schon sieben bis acht Ministerien ...

Volker Bouffier: In der Ressortverteilung sollte sich das Wahlergebnis spiegeln. Die Union hat 41,5, die SPD 25,7 Prozent geholt.

Die Welt: Wird die hessische CDU nach dem Rückzug von Kristina Schröder weiter im Kabinett vertreten sein?

Volker Bouffier: Über das Personal wird jetzt noch nicht gesprochen. Wir bringen unsere hessischen Interessen ein, wenn es so weit ist.

Die Welt: Den Rekord hält Helmut Kohl mit 25 Kabinettsmitgliedern. Wo liegt nun die Obergrenze?

Volker Bouffier: Sachfragen brauchen Antworten. Und es gibt legitime Interessen der Parteien. Zahlenvorgaben für das Kabinett hielte ich für töricht.

Die Fragen stellten Robin Alexander und Jochen Gaugele.

Foto: Hessische Staatskanzlei

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