- Es gilt das gesprochene Wort.-

Herr Bundespräsident, Herr Präsident des Deutschen Bundestages, Frau Bundeskanzlerin, Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Exzellenzen, Abgeordnete, meine sehr verehrten Damen und Herren, und vor allem meine sehr verehrten Damen und Herren, die das Ende des Zweiten Weltkriegs miterlebt haben.

Sehr geehrter Herr Professor Dr. Winkler, ich danke Ihnen für Ihre Rede, die in beeindruckender Weise die Bedeutung des 8. Mai 1945 für unsere Gesellschaft, für unser Land, für Europa und die ganze Welt auch 70 Jahre danach sehr deutlich gemacht hat. Herzlichen Dank!

Der deutsche Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll formulierte zum Kriegsende wie folgt: "Der Krieg wird niemals zu Ende sein, solange noch eine Wunde blutet, die er geschlagen hat." Unendlich viele Wunden sind durch diesen Krieg geschlagen worden, Wunden, die bis heute nicht verheilt sind und die uns mahnen und verpflichten. Wunden, die uns verpflichten, der Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu gedenken und Wunden, die uns mahnen, aktiv für Frieden, Völkerverständigung, Weltoffenheit und Toleranz einzutreten.

Der 30. Januar 1933 war der Beginn und der 8. Mai 1945 war der Endpunkt einer menschenverachtenden Diktatur, der Millionen Menschen zum Opfer fielen und die mit systematischem Völkermord einen absoluten Tiefpunkt in der Geschichte unseres Landes erreichte. Diese Einzigartigkeit des Geschehens erlaubt uns auch heute, 70 Jahre nach Ende der Nazidiktatur nicht, einen Schlussstrich zu ziehen oder das Geschehene zu relativieren.

Sich der eigenen Geschichte zu stellen und sich mit ihr auseinanderzusetzen, ist die Voraussetzung für gelingende Zukunft. Dies hat in Deutschland lange gedauert und aus heutiger Sicht häufig zu lange.

Der 8. Mai 1945 verpflichtet uns aber nicht nur, der Opfer der Naziherrschaft im In- und Ausland zu gedenken, er verpflichtet uns auch entschieden für Frieden, Freiheit und Demokratie einzutreten. Er verpflichtet uns, den Anfängen zu wehren und immer wieder deutlich zu machen, dass in Deutschland kein Platz für diejenigen ist, die diese Demokratie bekämpfen und Menschenrechte missachten. Dies gilt für Extremisten aller Art und es gilt besonders für diejenigen, die als ewig gestrige oder neue Anhänger des nationalsozialistischen Ungeists ihr Unwesen treiben. Diesem Treiben muss mit allen Mitteln des Rechtsstaats und einer gesamtgesellschaftlichen Ächtung entschieden entgegen getreten werden.

Mit dem größeren Abstand zum Kriegsende ist die Feststellung des verstorbenen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, dass der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung war, immer klarer hervorgetreten. Von Weizsäcker hat in seiner historischen Rede aber auch die höchst unterschiedlichen Empfindungen insbesondere der Erlebnisgeneration beschrieben.

Wenn diejenigen, für die auf den "Tag der Befreiung" eben keine Freiheit folgte, weil sie als Kriegsgefangene unendlich litten, als Vertriebene ihre Heimat verloren, oder wie die späteren Bürger der DDR und die Länder im ehemaligen Einflussbereich der Sowjetunion von einer Diktatur in die andere gerieten, das Diktum von der "Befreiung" zumindest als zu einseitig empfanden oder zuweilen auch heute noch empfinden mögen, ist dies erklärbar. Entscheidend ist jedoch, dass die Befreiung von der Nazidiktatur die Grundlage für ein neues und demokratisches Deutschland und die Rückkehr unseres Landes in den Kreis der zivilisierten Welt ermöglichte.

Diese Befreiung ist uns Deutschen nicht selbst gelungen, wie Sie, Herr Bundestagspräsident, und Sie, Herr Prof. Winkler, bereits ausführten. Thomas Mann hat in einem seiner Briefe im Juli 1945 geschrieben, Zitat: "Sie mussten durch äußere Mächte zur Menschheit zurückgeführt werden." Es ist deshalb auch mir ein Bedürfnis, diesen äußeren Mächten, die uns unter größten Opfern von der Nazidiktatur befreiten, heute ausdrücklich zu danken.

Den Alliierten ging es zunächst darum zu verhindern, dass Deutschland jemals wieder einen Krieg entfachen könnte. Sie legten aber auch den Grundstein für eine erfolgreiche und funktionierende Demokratie. Die von den Alliierten auferlegte föderale Ordnung Deutschlands griff eine jahrhundertealte deutsche Verfassungstradition auf und erwies sich ebenso als Glücksfall wie das marktwirtschaftliche und sozialstaatliche Prinzip.

Die Verhinderung zentraler Machtstrukturen, die Aufrechterhaltung von Vielfalt und regionalen Unterschiedlichkeiten, die dynamische und aktivierende Funktion von Wettbewerb, dies alles festigt die Demokratie, macht sie zweifellos aber auch anspruchsvoller, fordernder und anstrengender. Aber nur die Bereitschaft zum Kompromiss befähigt uns zur politischen Gestaltung. Die Geschichte der Bundesrepublik ist voll von Kompromissen um den Preis der politischen Gestaltungsfähigkeit. Dies war in der Stunde Null nicht absehbar, nahm aber unmittelbar nach dem Krieg ihren Anfang.

Der 8. Mai 1945 markiert aber nicht nur für Deutschland einen Epochenwechsel, sondern auch für Europa. Über Jahrhunderte hinweg standen sich die europäischen Großmächte in den unterschiedlichsten Konstellationen rivalisierend gegenüber. Die Durchsetzung von Machtinteressen mit militärischen Mitteln, das territoriale Expansionsstreben und die nationalstaatliche Überheblichkeit waren alltägliche Mittel der Politikgestaltung. Dies alles hatte sich am 8. Mai endgültig erschöpft. Die Zukunft Europas musste auf Grundlage der für Demokratie und Menschenrechte prägenden Werte errichtet werden, wenn sie nicht erneut scheitern sollte.

Das vereinte Europa und die Europäische Union waren und sind die richtige Antwort auf das Inferno zweier Weltkriege. Grenzen zu überwinden, ohne Kriege gegensätzliche Interessen auszugleichen und gemeinsame Interessen wahrzunehmen, darin liegt die fundamentale Bedeutung dieses vereinten Europas. Daran zu erinnern ist notwendig angesichts der vielfältigen Herausforderungen, die dieses vereinte Europa in einer globalisierten Welt zu bestehen hat. Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, das Ringen um eine bessere nicht nur ökonomische Zukunft in allen Ländern dieser Gemeinschaft oder die Bekämpfung der Fluchtursachen und nicht der Flüchtlinge, die nach Europa streben, mögen als Beispiele genügen. Dieses vereinte Europa ist nicht das Paradies, aber ich kenne keine andere Staatengemeinschaft, in der die Menschenrechte, Frieden, Freiheit und das Recht besser gewahrt würden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Gedenken an die Ereignisse von 1945 und davor ist und bleibt eine Kernaufgabe deutscher Politik. Die Bedeutung des 8. Mai hat dabei viele Facetten.

Nach meinem Verständnis gibt er eine Grundbotschaft, die für uns alle gelten kann, heute und in Zukunft, in unserem Land und überall auf der Welt. Der 8. Mai verlangt eine Haltung, die unser Tun bestimmen sollte. Es geht um gegenseitigen Respekt, es geht um Toleranz und es geht um Zivilcourage, nicht nur am 8. Mai, sondern jeden Tag und immer wieder aufs Neue.

Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen und bitte Sie, sich für die Europäische Hymne zu erheben.

Link zum Video der Rede von Bundesratspräsident Volker Bouffier im Deutschen Bundestag.

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