Volker Bouffier spricht in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 05.03.2017 über seine Zeit als Boxer und Basketballer in der Bundesliga, den Wert von Idolen und den Kampf für das Gute im Sport - gegen Diktatoren und Doper.
Sport kann aus Menschen Stars machen, das ist faszinierend. Aber er kann noch mehr. Ein Sportler, der mich beim Finale der Fußball-Europameisterschaft im vergangenen Jahr besonders beeindruckt hat, war Ronaldo. Ein Superstar aus Portugal, ein unglaublich guter Fußballer, den viele für überheblich halten, für zu schön oder was auch immer. In diesem Finale sahen viele Millionen Menschen, wie er relativ bald nach Spielbeginn von den Franzosen, mal vorsichtig ausgedrückt: nicht sehr fair behandelt und erheblich verletzt wurde. Er versuchte, weiterzuspielen, kämpfte, aber es ging nicht mehr, er musste raus, Ende des Traumes. Wenn man dann gesehen hat, mit welcher Leidenschaft er an der Seitenlinie dabei war, wie er seine Jungs angefeuert und angetrieben hat, dann hat man gesehen, wie aus einem Star ein Mensch wurde. Das sind die Art von Geschichten, die nicht nur der Fußball und der Sport schreibt, aber das sind die Art von Geschichten, die er schreiben kann. Und dadurch, dass sie millionenfach verbreitet werden, haben sie eine ungeheure Wirkung.

Ich habe immer gern Sport gemacht, und ich hatte Glück: Meine Eltern haben meine Aktivitäten mit Freude gesehen. Heute bin ich mehr sportinteressiert als sportlich unterwegs, anderes lässt meine Zeit leider nicht mehr zu.

Angefangen hatte ich in Gießen mit dem Boxen, da war ich acht Jahre alt. Meine Klassenkameraden in der Volksschule, wie das damals hieß, kamen aus einer Ecke, die man heute sozialen Brennpunkt nennen würde, und da war ganz in der Nähe ein Boxklub, dahin haben sie mich mitgenommen. Ich fand das faszinierend, man lernt ja überall etwas, und das Wichtigste, was ich beim Boxen lernte, war der Wert der Fitness, der Beherrschung von Geist und Körper. Der berühmte Punch, die Schlagstärke, ist auch schön, aber eigentlich geht es beim Boxen erst einmal um technisches und taktisches Können, das sieht man bei den leichteren Gewichtsklassen besser als bei den schweren, wo die Kämpfe oft ein Hin- und Hergeschiebe sind und bei einem Schlag, der durchgeht, schon die Lichter ausgehen. In den leichteren Klassen kommt es nicht so sehr auf den Wummshammer an, sondern auf das Auge, das technische Können, das taktische Geschick, auf eine intelligente Kampfführung, auf Geduld und das Gefühl für den richtigen Moment. Das sind alles Dinge, die kannst du für das ganze Leben brauchen.

Mir hat beim Boxen die Gemeinschaft Spaß gemacht, das Training, auch die Staffelkämpfe, aber ich war alles andere als ein großer Boxer, und irgendwann haben meine Eltern gesagt, das ist nichts für den Bub. Dann kam ich zum Turnen, das fand ich nicht so toll und war dankbar, als einer kam und sagte, komm, du kannst mal Handball bei uns mitspielen beim MTV Gießen. Ich habe also Handball gespielt, im Sommer noch auf dem Feld. Wir sind mit dem Fahrrad irgendwo hingefahren, haben unser Spiel gemacht, und dann sind wir wieder heimgeradelt, mit Duschen war da meistens nichts. Ich habe auch Wasserball gespielt, Volleyball, Tischtennis, habe alles probiert, und als ich zum Basketball gekommen bin, war klar, ich hatte meinen Sport gefunden. Gießen ist eine Basketballhochburg, der MTV eine Institution in der Stadt, und wir waren ziemlich gut, ich spielte in der Junioren-Nationalmannschaft, viermal die Woche Training, jedes Wochenende ein Spiel. Wie viele Jungs, die Basketball spielen, träumte ich, dass ich eigentlich in die NBA gehöre, aber bei nüchterner Betrachtung wäre ich auch ohne Unfall nicht über den Status des privilegierten Zuschauers hinausgekommen. Nach der Juniorenzeit war ich der klassische Bankwechselspieler bis zur Bundesliga, mal zweite Mannschaft, mal erste Mannschaft, dann hatte ich 1973 diesen Autounfall, und damit war die Geschichte mit dem Sporttreiben zu Ende, sie war zu Ende, aber die Leidenschaft für den Sport, die ist geblieben. Diese Leidenschaft vergeht nicht - wenn man einmal auf dem Platz gestanden hat, dann fiebert man den Rest seines Lebens mit den Sportlern.

Der Klassiker im Basketball: Noch drei Sekunden auf der Uhr, einen Punkt zurück, du ziehst in die Zone nach dem Motto, entweder ziehe ich das Ding jetzt rein, oder die foulen mich, und natürlich foulen sie mich, zwei Freiwürfe, und wenn ich beide reinmache, haben wir gewonnen. Im Training triffst du neun von zehn Freiwürfen, ohne dass der Ball den Ring auch nur berührt. Aber das ist Training. Und jetzt stehst du da, 4000 Zuschauer, und die Frage ist: Hast du die Ruhe, die Kraft, die Konzentration?

Als Zuschauer kann ich das alles nachempfinden, auch die Freude, wenn es klappt, und die tiefe Enttäuschung, wenn es missglückt. Dieses Mitfühlen, dieses Mitbibbern, dieses Mitärgern, dieses Mitfreuen, das ist, was mich bis heute mit dem Sport verbindet, das macht ihn so schön.

Man lernt verdammt viel im Sport. Dass man ein Team ist und als Einzelner Verantwortung übernimmt, dass man sich als Sieger großartig fühlt und als Verlierer nicht untergeht. Dass es manchmal super klappt - Cha-Cha-Cha linksrum, Augen zu, Dunking, alles kein Problem - und dass manchmal, wenn alles ganz einfach scheint, wenn du den Ball eigentlich nur noch im Korb ablegen musst, gar nichts funktioniert, das sind Erfahrungen, die für mich prägend waren.

Sport ist auch Grenzerfahrung im Sinne von: Man will die ganze Welt rocken und muss manchmal erfahren, dass es nicht geht, dass es Leute gibt, die besser sind, die treffen aus 15 Metern den Korb, und ich schieße aus zwei Metern vorbei. Jetzt kommt das Entscheidende: Das darf nicht dazu führen, dass ich sage, das hat keinen Sinn, so gut wie der werde ich sowieso nie. Es kommt darauf an, trotzdem engagiert zu bleiben, zu trainieren, sich anzustrengen, um selbst besser zu werden, um das, was ich vielleicht kann, aus mir herauszuholen und einzubringen in die Mannschaft. Im Beruf ist es genau dasselbe. Wenn ich mich anstrenge, habe ich eine bessere Chance voranzukommen, als wenn ich sage, ist ja eh egal. Die meisten Sportler, die ich kenne, sind in der Regel auch beruflich erfolgreich. Sie sind in der Lage, mit Anspruch an sich selbst zu arbeiten und auch in außergewöhnlich schwierigen Situationen Leistung zu erbringen.

Es war schwer damals, als es vorbei war für mich mit dem aktiven Sport. Ich war 22, und wenn du über Monate gelähmt im Krankenhaus liegst und es zwei Jahre dauert, bis du überhaupt wieder stehen und gehen kannst, dann stellt sich die Frage nach dem aktiven Sport nicht. Es war schwer, natürlich war es schwer. Ich habe lange gebraucht, um überhaupt wieder in die Sporthalle zu gehen, ich wollte mir nicht selbst vor Augen führen, dass es vorbei ist. Als ich keinen Sport mehr machen konnte, habe ich meine Energie ins Studium gesteckt und in die Politik, in der ich zuvor schon aktiv war. Ich wollte Anwalt werden, und das bin ich auch geworden. Ich habe eine Kanzlei aufgebaut und war ganz gut ausgelastet. Es war eine andere Form der Beanspruchung. Körperlich das Optimale herauszuholen, das ging ohne Sport nicht mehr.

Natürlich gäbe es auch ein Leben ohne Sport, aber es wäre wesentlich ärmer, und ich wünsche es mir anders, denn ich bin der festen Überzeugung, dass der Sport unsere wichtigste gesellschaftliche Ressource ist. Es gibt vieles andere, was auch wichtig ist, aber nur der Sport - und ausschließlich nur der Sport - hat die Chance, alle Menschen zu erreichen, vom Mutter-Kind-Turnen bis hin zur Koronar-Sportgruppe der Senioren. Der Sport erreicht gesunde Menschen und kranke, arme und reiche, und er ist absolut konkurrenzlos im Bereich der Integration. Natürlich gibt es Dinge, die auch im Sport nicht gelingen, aber in der Summe ist er in seiner gesellschaftlichen Funktion völlig unverzichtbar. Auch in unserer sich rasant verändernden Welt ist der Sport noch immer der gesellschaftliche Bereich, der die meisten Zugänge zu den Menschen hat. Deshalb ist es nach wie vor richtig, dass sich die Gesellschaft, der Staat, die öffentliche Hand um den Sport kümmert, auch finanziell.

Warum sollte ein junger Mensch jeden Tag trainieren, mit viel Verzicht und mancherlei Enttäuschung, wenn er nicht ein Idol hat, irgendjemanden, dem er nacheifern kann? Man kriegt nur Spitze, wenn man Breite hat. Und Breite kriegt man nur, wenn man Spitze hat. Die Kunst besteht darin, diesen Prozess zu organisieren.

Der Breitensport hat in unserer Gesellschaft eine riesige Bedeutung. Als Freizeitsport, als Gesundheitssport. Als Markt der Begegnungen. Als Brücke, um Menschen zusammenzubringen. In Zeiten von iPhone, Twitter und Kindern, die täglich stundenlang vor dem Laptop sitzen, kommt hinzu, dass die Menschen sich im Sport tatsächlich begegnen und nicht nur virtuell austauschen. So beschrieben, hat Sport auch eine bedeutende kulturelle Funktion.

Wenn ich mir den modernen Spitzenfußball anschaue, bin ich sehr beeindruckt. Er ist extrem schnell geworden, extrem athletisch, er hat sich unglaublich entwickelt, das gefällt mir gut. Aber wenn ich mir anschaue, was um den Fußball herum passiert, die Gewaltexzesse, dann sage ich: Das ist absolut indiskutabel und nicht zu tolerieren. Ich glaube, dass man dieser Entwicklung noch viel härter Einhalt gebieten muss. Dass die Südtribüne in Dortmund für ein Spiel gesperrt wurde, war richtig, und ich vertrete auch die Auffassung, dass wenn es solche Hassparolen gibt wie zuvor beim Spiel der Dortmunder gegen Leipzig, dann darf ein Spiel nicht angepfiffen werden, und dafür muss es klare Regeln geben. Wir müssen Hass und Gewalt von Anfang an unterbinden und dagegen antreten, im Stadion und um das Stadion herum. Die Vereine und Verbände werden viel zu tun haben, um in dieser Frage entschieden aufzutreten, weil sie sonst die Akzeptanz weiter Kreise verlieren, nicht zuletzt deshalb, weil wir dann eine Debatte bekommen darüber, wie extrem ein Gewaltpotential dieser Größenordnung die Sicherheitskräfte des Staates fordert und bindet. Und dann kann man, jenseits aller hochkomplexer juristischer Fragen, schon verstehen, wenn einer sagt, es kann doch nicht sein, dass wir Hunderte von Polizisten rund um ein Fußballspiel brauchen, und das zahlt der Staat. Deshalb erwarte ich vom Fußball als Organisation ein sehr entschlossenes Durchgreifen. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem dies dringend nötig ist. Und die Vereine dürfen Gewaltexzesse nicht für Fanszene halten.

Der Sport hat viele Baustellen, eine sind die Olympischen Spiele. Für mich bleiben sie trotzdem ein Zukunftsmodell, und das sollten wir nicht aufgeben. Würde es Coubertins Idee, einen Platz zu haben, wo Athleten zu einem friedlichen Wettstreit zusammenkommen, nicht geben, so müsste man ihn erfinden. Natürlich kann eine solche internationale Begegnung nicht in träumerischer Weise nur die Edlen und Besten umfassen, sie kann auch nicht unabhängig sein von politischen Verwerfungen - und trotzdem möchte ich diesen Anspruch, dieses Ideal immer aufrechterhalten. Wir müssen die Idee nach vorne tragen, das halte ich für wichtig. Und wir dürfen Olympische Spiele nicht nur noch in diktatorischen Staaten ausrichten.

Was Doping im Sport betrifft, so halte ich es für sehr bedrohlich. Damit am Ende im Sport nicht alles tatsächlich nur noch Fake ist, muss man den Dingen entgegentreten. Das ist leichter gesagt als getan. Ich glaube, dass wir in Deutschland bei der Bekämpfung des Dopings relativ gut unterwegs sind, das scheint mir nicht in allen Ländern so zu sein. Ich habe bedauert, dass das Internationale Olympische Komitee im Fall des organisierten russischen Staats-Dopings nicht den Mut aufgebracht hat zu sagen, nein, Freunde, das geht nicht, und deshalb schließen wir euch von Olympia aus. Da ist kein fröhliches Schweigen angebracht und schon gar nicht eine Förderung dieses Missbrauchs. Dass der Ehrliche am Ende der Dumme wird, dürfen wir nicht zulassen.

Aufgezeichnet von Michael Eder

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