Gehalten am 26. Januar 2016 im Hessischer Landtag - Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Damen und Herren,

am 27. Januar 1945, morgen vor 71 Jahren, herrschte im Konzentrationslager Auschwitz gespenstische Ruhe. Gegen Mittag erst änderte sich dies. In der Ferne im Schnee waren Soldaten erkennbar. Zunächst war nicht klar, ob es deutsche Soldaten sind. Dann aber erkannten die Häftlinge: Es ist die Rote Armee. Erleichterung und Freude bei jenen, die noch etwas fühlen können. Die Krematorien würden nie wieder angefeuert, der Stacheldraht nie wieder unter Strom gesetzt, Hunger und Schmerz und die unerträglichen Demütigungen würden ein Ende haben. Das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und die Nebenlager werden befreit.

Die ausgemergelten Überlebenden, die die Rote Armee in Ausschwitz vorfand, ließen sich kaum von den Toten unterscheiden. Aber sie waren der Hölle entkommen und konnten fortan Zeugnis ablegen für die industrielle Tötungsmaschinerie, für das millionenfache Unrecht und eine nie dagewesene grausame Zäsur in der Geschichte der Menschheit: für den von Deutschland ausgegangenen Zivilisationsbruch, für die Shoa.

Am heutigen Tage erinnern wir weltweit an alle Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Wir erinnern an die sechs Millionen getöteten Juden, an Christen, Sinti und Roma, politisch Andersdenkende, Homosexuelle, Menschen mit Behinderung sowie Männer und Frauen des Widerstandes, Wissenschaftler, Künstler, Journalisten, Kriegsgefangene und Deserteure, Zwangsarbeiter, Greise und Kinder an der Front, an alle von den Nationalsozialisten entrechtete, verfolgte, gequälte und ermordete Menschen.

Mit kalter Berechnung wurde der faschistische Wahn umgesetzt. Die damaligen Machthaber verfügten über die Definitionsmacht zu bestimmen, wer sein Leben verwirkt hatte. Und sie exekutierten ihre völlig irrationalen Festlegungen mit brutaler Konsequenz. Wer von ihrem Menschenbild abwich, der wurde als „Reichsfeind“, „Schädling“ oder „lebensunwertes Leben“ abqualifiziert. Und wer erst einmal so stigmatisiert war, der musste – so wollte es die Ideologie – „vernichtet“, ja „ausgerottet“ werden. So wurden insbesondere die Juden in ihrer Gesamtheit zuerst zu „Untermenschen“ erklärt, dann entrechtet und schließlich ihre systematische physische „Vernichtung“ organisiert.

Der Nationalsozialismus hat so eine nie gekannte Untiefe menschlichen Handelns hervorgebracht. Dabei konnten die Nazis auch an eine seit Jahrhunderten bestehende Antipathie und vorurteilsgeprägte Stimmung anknüpfen. Unser christliches Abendland trägt diese Bürde bis heute. Es ist auch geprägt durch die Abgrenzung, die Ablehnung und Absonderung von der jüdischen Kultur. Eine Religion, aus der heraus unsere Kultur doch selbst erwachsen ist. Doch wieder und wieder gab es in der Geschichte Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung. Und bis hinein in die städtebauliche Ordnung hat der Antisemitismus seinen Ausdruck gefunden: Seit dem Mittelalter wurden Juden in ganz Europa in Ghettos ausgegrenzt, selektiert und zu minderen Existenzen herabgestuft.

Der faschistische Rassenwahn war es, der die Ghettos schließlich zu Orten des Grauens werden ließ. Weit über 1000 Ghettos hatten die Nazis in Osteuropa ab 1939 errichtet. Überfüllung, Hunger, Krankheit, Ausbeutung und Entrechtung sowie die Willkür und der Terror der Machthaber prägten den Alltag im Warschauer Ghetto genauso wie in Krakau, in Wilna (Vilnius) und Kauen (Kaunas). Das Zugeständnis der Selbstverwaltung der Ghettos durch die Juden diente nur der Organisation ihres eigenen Untergangs. Aussichtslos die Aufstände gegen die Brutalität und Unmenschlichkeit.

Vereinzelt gab es kleine Oasen der Selbstbehauptung und der Würde, dort wo etwas Musik und Theaterspiel möglich war, wo jenseits der knappen Essensrationen zusätzliche Nahrung ins Ghetto geschmuggelt wurde, ein Fest gefeiert wurde, wo trotz des täglichen Überlebenskampfes die Menschlichkeit siegte. Aber am Ende gab es kein Entrinnen vor der Exekution durch die selbsternannten „Herrenmenschen“.

In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag schilderte Marcel Reich-Ranicki die Vorbereitungen der Deportation der Juden aus dem Warschauer Ghetto nach Treblinka. Er beschreibt, wie die SS im Sommer 1942 anordnete die Ghettobewohner nach und nach zum sogenannten Umschlagplatz zu bringen. Zunächst 10.000 – und dann 7.000 täglich. „Es handelte sich hierbei keineswegs um willkürlich genannte Ziffern“, betonte Reich-Ranicki, den die SS damals zur Niederschrift der Anordnung heranzog. „Vielmehr hingen sie allem Anschein nach von der Anzahl der jeweils zur Verfügung stehenden Viehwaggons ab; sie sollten unbedingt ganz gefüllt werden. Was „Umsiedlung“ der Juden genannt wurde, so Reich-Ranicki, „war bloß eine Aussiedlung. Mit nur einem Ziel, und nur einem Zweck: dem Tod.“

Reich-Ranicki und seine im Ghetto geehelichte Frau entkamen diesem Tod nur knapp. Insgesamt wurden über die Jahre fast eine halbe Millionen Menschen ins Warschauer Ghetto verschleppt, um sie anschließend zu ermorden. In ganz Europa waren die Ghettos nichts anderes mehr als Transitzonen des Grauens, Vorhöllen auf dem Weg zur endgültigen Vernichtung.

Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten das Leiden in den Ghettos, die Leichenberge in den Konzentrationslagern und die Zerstörung durch den totalen Krieg vor Augen, als sie die Unantastbarkeit der Menschenwürde zum Ausgangspunkt der demokratischen Nachkriegsordnung machten.

Ihnen war bewusst, dass immer dort, wo sich Menschen über andere Menschen erheben und nach Herkunft, Religion oder Geschlecht kategorisieren, selektieren und abstufen, die Würde des Menschen angetastet wird. Denn die Würde kennt keine Rangfolge, keine genetische Wertung, sie ist nicht verhandelbar, hat keinen Preis, sondern sie ist für jeden Menschen absolut.

Wir erleben gegenwärtig wie unsere Gesellschaft erneut um die Frage ringt, wie sie mit Fremden umgehen soll. Was gehört zu unserer Kultur dazu, was nicht? Und wieder einmal versuchen einige durch die Herabwürdigung anderer, die eigene Identität zu stärken, die eigene Herkunft zum Maßstab der Würde zu machen.

Die große Zahl von Flüchtlingen und die damit verbundenen Ängste machen es jenen leicht, die einfache Antworten auf schwierige Fragen parat haben. Nicht erst die Debatten nach der Silvesternacht in Köln zeigen, welche Konflikte wir zu bewältigen haben.

Die Schreckensherrschaft, die in deutschem Namen begangen wurde, zwingt uns keineswegs zur Naivität gegenüber den Gefahren, die mit der Zuwanderung verbunden sind. Aber sie muss uns immer wieder sensibilisieren, alte und neue Vorurteile und Feindbilder als solche zu entlarven und Mechanismen der Aussonderung und Diskreditierung zu erkennen. Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verlangen deshalb mehr denn je unsere Aufmerksamkeit und unser Erinnern.

Generalstaatsanwalt Fritz Bauer mahnte schon in den 1960er Jahren: „Bewältigung unserer Vergangenheit heißt Gerichtstag halten über uns selbst, Gerichtstag über die gefährlichen Faktoren in unserer Geschichte, nicht zuletzt über alles, was hier inhuman war; woraus sich zugleich ein Bekenntnis zu wahrhaft menschlichen Werten in Vergangenheit und Gegenwart ergibt.“

Wir müssen gegenwärtig erleben, wie auf Kundgebungen des rechten Randes der Gesellschaft, in den sozialen Netzwerken und andernorts, die Opfer des Nationalsozialismus mit Füßen getreten werden, indem faschistisches Vokabular unverblümt wiederbelebt wird. Wie in ganz Europa Rechtspopulisten erstarken, die mit ihrer Hetze gegen Juden und Migranten den Nationalismus anfachen und menschenverachtende Propaganda wieder salonfähig wird.

Das Denken, das sich im Fremdenhass, Antisemitismus oder auch islamistischen Terrorismus offenbart, hat mit einem freiheitlichen und demokratischen Staatsverständnis nichts zu tun. Deshalb müssen wir jeder Form von Menschenfeindlichkeit von Anfang an die Stirn bieten. Wir wollen keine hasserfüllten Parolen gegen angeblich Ungläubige oder Andersgläubige. Wir wollen keine hasserfüllten Parolen gegen Juden. Wir wollen keine hasserfüllten Parolen gegen Menschen, die in Deutschland ein neues Zuhause finden wollen.

„Nie wieder!“ – Diese Botschaft ist deshalb für unser demokratisches Land, das in Frieden mit seinen Nachbarn lebt, geradezu konstitutiv. Ebenso wie unser Bekenntnis zu einem geeinten Europa zu Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, Pluralität und Toleranz (A. Merkel).

Doch so kostbar diese Werte auch sind, so zerbrechlich sind sie zugleich. Niemand sollte glauben, dass diese Werte zu einer Immunisierung gegenüber den Mechanismen des Totalitarismus führen. Unsere freiheitlich-demokratischen Überzeugungen sind nicht unumkehrbar. Der Prozess der Zivilisation, die Errungenschaften und Erfahrungen einer Kulturnation unterliegen nicht der Ewigkeitsgarantie.

Bis heute bleibt die Frage des Auschwitzüberlebenden und Friedensnobelpreisträgers Elie Wiesel unbeantwortet: „Wie konnten intelligente und gebildete Menschen tagsüber mit Maschinengewehren auf hunderte Kinder schießen und sich am Abend an den Versen Schillers oder einer Partitur von Bach erfreuen?“

Die Erinnerung an die grausamen Kapitel unserer Geschichte muss unser Selbstverständnis als Nation auch weiterhin prägen. Jeder, dem eine gute Zukunft Deutschlands am Herzen liegt, muss sich der immerwährenden Verantwortung nach der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bewusst sein.

„Nur die sichtbaren Ghettomauern sind gefallen“ schrieb einmal enttäuscht Theodor Herzl, der geistige Vater des modernen jüdischen Staates nieder. Es ist gerade in diesen Zeiten unser Auftrag, die Ghettos in den Köpfen abzubauen und zu verhindern, dass neue entstehen. Das ist unser bleibender Auftrag, das ist die Konsequenz unseres Erinnerns.

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