Ist Sitzenbleiben altmodisch, pädagogischer Unfug? Als Hessischer Ministerpräsident, der zwar kein Pädagoge ist, aber Vater von drei Kindern, hat Volker Bouffier dazu eine klare Position, über die er in der heutigen Ausgabe der Welt geschrieben hat.

Den Namensbeitrag können Sie hier nachlesen:

Ist Sitzenbleiben altmodisch, pädagogischer Unfug? Als hessischer Ministerpräsident, der zwar kein Pädagoge ist, aber Vater von drei Kindern, habe ich dazu eine klare Position: Ich wünsche keinem Schüler und keinem Elternteil, mit der Frage der Nichtversetzung konfrontiert zu werden. Gleichwohl müssen wir akzeptieren, dass es unterschiedliche Begabungen, unterschiedliche Leistungen und auch Unterschiede in der Leistungsbereitschaft gibt. Wir sollten die Menschen nehmen, wie sie sind, und nicht, wie sie sein sollen, und uns deshalb auch keine Wunschbilder malen, sondern mit der Realität beschäftigen. Das Sitzenbleiben einfach abzuschaffen, sei es aus Angst vor den Betroffenen, aus ideologischer Überzeugung heraus oder, noch schlimmer, aus finanziellen Gründen, halte ich für falsch.

Mein Menschenbild ist gekennzeichnet durch Freiheit, Verantwortung, Solidarität und Individualität. Bei aller Unterschiedlichkeit ist aber jeder Mensch gleich viel wert. Die Abschaffung von Sitzenbleiben, Noten und differenzierten Bildungsabschlüssen dient der Gleichmacherei. Die Aufgabe des Staates ist es aber, höchst unterschiedlichen Schülerinnen und Schülern die bestmögliche Förderung anzubieten. Wenn diese zur Erreichung der Versetzung nicht ausreicht, ist die Wiederholung einer Jahrgangsstufe im Sinne eines Förderns und Forderns aber durchaus ein probates Mittel, um jungen Menschen in ihrer schulischen Entwicklung zu helfen.

Dazu kommt noch ein weiterer Gesichtspunkt: Wo, wenn nicht zuerst in der Schule, lernt ein Kind oder Jugendlicher, dass seine Bemühungen eine unmittelbare Folge haben? Das umfasst die Freude über eine gute Note ebenso wie die Erfahrung, dass die Leistungen nicht ausreichen, um den nächsten Schritt in die höhere Jahrgangsstufe mitzugehen. Ich bin überzeugt, dass es gerade für Kinder und Jugendliche demotivierend ist, zu sehen, dass man auch ohne eigenen Einsatz die nächste Stufe erklimmen kann. Im Gegenteil; die auf die Schule folgenden Ausbildungsstätten dürfen erwarten, dass die Jugendlichen dieses Rüstzeug, zu dem auch die Erfahrung des Scheiterns gehören kann, aus der Schulzeit mitbringen. Wer diese Tatsache nicht anerkennen will, handelt auch nicht im Interesse der Schüler. Wer erst in der Ausbildung oder im Beruf damit konfrontiert wird, dass bei Nichterfüllung der erforderlichen Qualifikation massive nachteilige Konsequenzen eintreten, ist von der Schule sehr schlecht auf das Leben vorbereitet worden. Genau diese Vorbereitung auf das spätere Leben ist aber Hauptaufgabe der Schule.

Die Politik will natürlich die Nichtversetzungsquote reduzieren. Der hessischen Landesregierung ist dies in den vergangenen zehn Jahren durch umfangreiche Förderangebote sehr gut gelungen. Gleichwohl gibt es aber auch weiterhin einen Anteil an Schülerinnen und Schülern, die versetzungsgefährdet sind. Diesen jungen Menschen sollte, nachdem alle Unterstützungsmaßnahmen erfolglos waren, in letzter Konsequenz weiterhin die Wiederholung eines Schuljahres auferlegt werden können. Ein Jahr der Kompensierung von Defiziten ist eine Chance, in einem neuen Umfeld und mit einem Wissensvorsprung die selbst gesteckten Ziele zu erreichen. Selbst der SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, der sich öffentlich zu seinem Sitzenbleiben bekennt, bestätigt, dass das Sitzenbleiben nicht das Ende einer Karriere ist.

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